Worum geht's?
11 Jahre nach dem Urteil i.S. Siemens/Neubürger hat das LG München I, Urteil vom 5. September 2024 (Az. HK O 17452/21), anerkannte Grundsätze der Organhaftung bestätigt:
- Beweislastumkehr des § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG gilt auch für ausgeschiedene Organmitglieder,
- Entlastung durch Vertrauen auf Expertenrat durch die eigene Rechtsabteilung grundsätzlich möglich,
- Keine Berufung auf Vertrauensgrundsatz bei Anhaltspunkten für eine nicht ordnungsgemäße Geschäftsführung,
- Pflicht des Aufsichtsrats zur Verschärfung der zur Überwachung notwendigen Maßnahmen bei vorangegangenen Verstößen des Vorstands
und neue Akzente gesetzt, die voraussichtlich zu einer Verschärfung der Anforderungen an Geschäftsführungs-maßnahmen des Vorstands führen werden.
Grenzen des Beurteilungsspielraums
- Die Geschäftsführung impliziert riskante und ggf. nachteilige Entscheidungen; grundsätzlich ist dem Vorstand bei der Geschäftsführung ein weitreichender Beurteilungsspielraum zuzubilligen.
- Der Handlungsspielraum sei aber überschritten, wenn "das hohe Risiko eines Schadens unabweisbar ist und keine vernünftigen geschäftlichen Gründe dafür sprechen, es dennoch einzugehen".
- Ausreichung einer "völlig ungesicherten Kreditvergabe an einen finanzschwachen Vertragspartner" sei ein unvertretbares Risiko und mithin pflichtwidriges Handeln des Vorstands.
- Der innerhalb des Bankensektors geltende Grundsatz, Kredite grundsätzlich nicht ohne übliche Sicherhei-ten zu gewähren, gelte "auch außerhalb des Bankensektors".
Verschärfung des Pflichtenkanons
- Vor der Entscheidung über die Zeichnung von Schuld-verschreibungen sei zur Überprüfung der Werthaltigkeit und Existenz der verbrieften Forderungen sowie der Solvenz des Sicherungsgebers eine Financial Due Diligence durchzuführen.
- Die Zustimmung zu einem (mit erheblichen Belastung-en verbundenen) Kreditvertrag sei "ohne Kenntnis des Wortlauts" nicht mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters vereinbar.
- Ohne Kenntnis vom Vertragsinhalt sei jede Möglichkeit verwehrt, Nachfragen zum Vertrags- und Beschluss-inhalt zu stellen.
- Folge: Bei intransparentem Beschlussgegenstand reiche Vorbringen von Bedenken allein nicht (mehr) aus, vielmehr müsse die Zustimmung verweigert werden.
Vertrauensgrundsatz vs. gesundes Misstrauen?
- Grundsatz der Gesamtverantwortung: jedes Vorstandsmitglied trägt die Pflicht zur Geschäftsführung im Ganzen (§§ 76 Abs. 1, 77 Abs. 1 AktG).
- Vorstand hat aber weiten Ermessensspielraum bzgl. horizontaler (und vertikaler) Aufgabendelegation.
- Vorstandsmitglied darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass die anderen ihren Aufgaben pflichtgemäß nach-kommen und das Kollegium zutreffend informieren.
- Dennoch trifft nicht-ressortzuständiges Vorstandsmit-glied Überwachungspflicht
- Keine Berufung auf Vertrauensgrundsatz der nicht-ressortzuständigen Organmitglieder bei Anhaltspunkten für die nicht ordnungsgemäße Geschäftsführung des ressortzuständigen Organmitglieds.
Entlastung durch Vertrauen auf Expertenrat?
- Grundsätzlich kommt Entlastung von Vorstandsmit-gliedern durch Vertrauen auf Expertenrat in Betracht.
- Anforderungen des BGH (ISION-Grundsätze):
- Umfassende Information des Experten
- Fachkompetenz und Unabhängigkeit des Experten
- Eigenständige Plausibilitätskontrolle durch Vorstand
- Nach Auffassung des LG München I sei auch die
eigene Rechtsabteilung grundsätzlich geeignet, eine
unabhängige Prüfung durchzuführen, sofern:
- eigenständige Prüfung des Sachverhalts gewährleistet wird und
- keine Erwartungshaltung hinsichtlich des Ergebnisses vorgegeben wird.
Verschärfung von Zustimmungsvorbehalten
- Auch im Verhältnis zwischen Aufsichtsrat und Vorstand gilt im Ausgangspunkt der Vertrauensgrundsatz, wonach der Aufsichtsrat dem zur Offenlegung verpflichteten Vorstand grundsätzlich vertrauen darf.
- Die Grenze des Vertrauensgrundsatzes ist indes erreicht, wenn es bereits zur Verletzung grundlegender aktienrechtlicher Pflichten durch den Vorstand oder einzelne Mitglieder kam.
- Das Ermessen des Aufsichtsrats, bestimmte Geschäfts-führungsmaßnahmen einem Zustimmungsvorbehalt zu unterwerfen, verdichte sich zu einer entsprechenden Pflicht, wenn der Vorstand in der Vergangenheit Zustim-mungserfordernisse des Aufsichtsrats missachtet hat.
Fazit und Ausblick
- Pauschale Übertragung der bankenrechtlichen An-forderungen auf Unternehmen außerhalb des Sektors könnte Anbahnung von Geschäftsbeziehungen und Start-up-Finanzierung erschweren
- Generelle Pflicht des Vorstands zur Lektüre des voll-ständigen Vertrags ("Kenntnis vom Wortlaut") in vielen Fällen nicht praktikabel und auch nicht erforderlich
- Kritisch: Entwicklung des Vertrauensgrundsatzes hin zum
Misstrauensprinzip setzt sich fort:
- Negativer Spill-Over Effekt nicht auszuschließen (steigende Haftungs-angst und Risikoaversion);
- Jedenfalls aber Weckruf für Organmitglieder, ihren Kolleginnen und Kollegen mit gesundem Misstrauen zu begegnen.
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