Der Europäische Gerichtshof hat mit Urteil vom 8. Mai 2025 (EuGH, Urt. v. 8.5.2025, C-581/23) wesentliche Anforderungen an die kartellrechtliche Zulässigkeit von Verkaufsverboten im Rahmen von Alleinvertriebssystemen präzisiert. Ein Anbieter darf seinen Händlern den aktiven Ver-kauf in ein einem anderen Händler exklusiv zugewiesenes Gebiet verbieten, wenn er seine übrigen Händler zuvor ausreichend über den Bestand und den Schutz der Exklusivgebiete informiert hat und die Händler der Beschränkung ausdrücklich oder durch konkludentes Verhalten zugestimmt haben.
Hintergrund der Entscheidung
Der Entscheidung lag ein Rechtsstreit zwischen dem Unternehmen Beevers Kaas und der Supermarktkette Albert Heijn zugrunde. Cono, der Hersteller von Beemster-Käse", hatte Beevers Kaas das alleinige Vertriebsrecht für Beemster-Käse in Belgien eingeräumt. Andere Abnehmer des Käses verzichteten aufgrund dieser Alleinvertriebsvereinbarung auf einen aktiven Verkauf in Belgien. Albert Heijn bezog jedoch Beemster-Käse direkt von Cono und verkaufte ihn anschließend in Belgien – obwohl Albert Heijn die Alleinvertriebsvereinbarung zwischen Beevers Kaas und Cono bekannt war. Beevers Kaas sah darin eine Verletzung der Alleinvertriebsvereinbarung, während Albert Heijn argumentierte, dass Beevers Kaas und Cono versuchten, ein kartellrechtlich unzulässiges Verkaufsverbot durchzusetzen.
Rechtliche Ausgangslage
Nach der bis 2022 geltenden Fassung der Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung (VO (EU) 330/2010), die der Entscheidung des EuGH noch zugrunde liegt, waren händlerseitige Beschränkungen des aktiven Verkaufs in ein Gebiet oder an eine Kundengruppe nur dann vom Kartellverbot freigestellt, wenn die jeweiligen Gebiete oder Kundengruppen einem Alleinvertriebshändler exklusiv zugewiesen waren (Art. 4 lit. b Ziff. i Vertikal-GVO 2010). Unter aktiven Verkäufen" versteht man gezielte Vertriebsmaßnahmen wie Werbung oder Verkaufsförderung, die auf bestimmte Kunden oder Regionen zugeschnitten sind. Nach den Leitlinien der EU-Kommission aus dem Jahr 2010 lag eine zulässige Beschränkung des aktiven Verkaufs in Exklusivgebiete oder Exklusiv-Kundengruppen jedoch nur dann vor, wenn der Anbieter den Exklusiv-Händler gleichzeitig auch vor aktiven Verkäufen in das Exklusivgebiet durch andere Händler schützte.
Seit 1. Juni 2022 gilt die neue Vertikal-GVO 2022/720, in der die EU-Kommission diese Schutzverpflichtung nun ausdrücklich vorschreibt (vgl. Art. 1 Abs. 1 lit. h Vertikal-GVO 2022/720). Daher ist das EuGH-Urteil für die Auslegung der neuen Verordnung und insbesondere für die gesetzliche Freistellung von aktiven Verkaufsverboten in Exklusivgebiete und an Exklusiv-Kundengruppen gem. Art. 2 und 4 lit. b Ziff. i Vertikal-GVO 2022/720 ebenfalls von Relevanz.
Zentrale Aussagen des EuGH
Der EuGH bestätigt in seiner Entscheidung, dass die bloße (vertragliche) Zuweisung eines exklusiven Gebiets oder einer exklusiven Kundengruppe an einen bestimmten Händler nicht genügt, damit ein Verbot des aktiven Verkaufs zugunsten des Alleinvertriebshändlers vom Kartellverbot freigestellt wird. Erforderlich sei vielmehr eine nachweisbareVereinbarung zwischen dem Anbieter und seinen übrigen Händlern, wonach diese auf aktive Verkäufe in das exklusiv zugewiesene Gebiet oder die exklusiv zugewiesene Kundengruppe verzichten.
Eine derartige Vereinbarung liege vor, wenn
- in den Vertriebsverträgen der nicht exklusiven Händler ausdrücklich ein Verbot des aktiven Verkaufs in das dem Alleinvertriebshändler zugewiesene Gebiet oder an die exklusiv zugewiesene Kundengruppe geregelt ist, oder
- die nicht exklusiven Händler ausdrücklich oder stillschweigend auf Aufforderung des Anbieters zugestimmt haben, sich an ein aktives Verkaufsverbot in exklusiv zugewiesene Gebiete oder an exklusiv zugewiesene Kundengruppen zu halten.
Die Aufforderung des Anbieters kann laut EuGH beispielsweise in Form einer Mitteilung, einer Vertragsklausel oder eines entsprechenden Hinweises in den AGB des Anbieters erfolgen.
Allein die Tatsache, dass andere Händler in einem exklusiv zugewiesenen Gebiet nicht tätig werden, reicht nach Auffassung des EuGH alleine noch nicht für die Annahme einer entsprechenden Vereinbarung oder Zustimmung aus. Gleichwohl könne ein solches Verhalten eine stillschweigende Zustimmung der Händler darstellen, den Schutz eines Exklusivgebiets zu respektieren, sofern es eine entsprechende Aufforderung des Anbieters sowie geeignete Mittel zur Überwachung und Durchsetzung des Verbots gebe.
Der EuGH stellte zudem klar, dass die Ausnahme von einer verbotenen Kernbeschränkung im Sinne des Art. 4 lit. b Ziff. i Vertikal-GVO 2010 (heute Art. 4 lit. b Ziff. i Vertikal-GVO 2022/720) nur für den Zeitraum gilt, in dem sowohl die Aufforderung des Anbieters, den Schutz eines Exklusivhändlers zu respektieren, als auch die Zustimmung der Händler nachgewiesen werden können.
Auswirkungen für die Praxis
Die (vertragliche) Zuweisung exklusiver Gebiete oder Kundengruppen an einzelne Händler rechtfertigt nicht automatisch auch die Auferlegung eines Verbots des aktiven Verkaufs in diese Alleinvertriebsgebiete oder an diese Kundengruppen gegenüber anderen Händlern. Vielmehr bedarf es nachweisbarer Vereinbarungen zwischen den beteiligten Akteuren, die Exklusivgebiete oder Exklusiv-Kundengruppen durch ein aktives Verkaufsverbot zu respektieren. Anbieter müssen dafür sicherstellen, dass alle Händler ihres Vertriebssystems über die Existenz exklusiv zugewiesener Gebiete oder Kundengruppen nicht nur informiert sind, sondern den damit verbundenen aktiven Verkaufsbeschränkungen auch ausdrücklich zustimmen. Dies sollte idealerweise vertraglich erfolgen, um den Nachweis zu erleichtern.
Unternehmen sollten daher nicht nur ihre Vertriebsverträge prüfen und ggf. anpassen, sondern auch interne Maßnahmen zur Überwachung und Durchsetzung des Verkaufsverbots zum Schutz der Exklusivgebiete oder Exklusiv-Kundengruppen einführen. Andernfalls droht ein Verstoß gegen das Kartellverbot des Art. 101 AEUV / § 1 GWB.
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