Die Verordnung über die Übertragung von Verfahren in Strafsachen1 (im Folgenden Verordnung") beabsichtigt die effiziente und geordnete Rechtspflege [...] zu fördern"2, aber auch – unter Berücksichtigung der Grundrechte – für eine wirksame Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität"3 zu sorgen. Die Verordnung wurde vom Rat der Europäischen Union am 5. November 2024 angenommen, nachdem sie die Europäische Kommission am 5. April 2023 verabschiedet hatte.
Im Kontext internationaler Unternehmen und Finanzinstitute, die
sich in mehreren Gerichtsbarkeiten bewegen, wird dieses neue
Instrument dazu beitragen, Fälle doppelter Strafverfolgung
oder Kompetenzkonflikte besser zu antizipieren und zu
bewältigen. Durch die Zusammenlegung der Ermittlungen bei
einer einzigen Gerichtsbarkeit begrenzt die Verordnung die Folgen
einer Vielzahl von Verfahren, erhöht die Rechtssicherheit und
bietet einen effizienteren Rahmen für den Umgang mit komplexen
Finanzdelikten.
Die Kriterien und Bedingungen dafür, ein Ersuchen um
Übertragung eines Strafverfahrens auf der Grundlage der
Verordnung zu stellen, sind im Folgenden zusammengefasst:
Behörden und Personen, die um eine Übertragung ersuchen können
- Ein Richter, ein Gericht, ein Ermittlungsrichter oder ein Staatsanwalt im ersuchenden Staat, der bzw. das in dem betreffenden Fall zuständig ist;
- eine andere von dem ersuchenden Staat benannte zuständige Stelle.
Die verdächtige oder beschuldigte Person oder ein Opfer kann ebenfalls die zuständigen Behörden des ersuchenden Staates oder des ersuchten Staates ersuchen, das Strafverfahren entsprechend der Verordnung zu übertragen4.
Kriterien für ein Ersuchen der Übertragung eines Verfahrens in Strafsachen
Die ersuchende Behörde ist der Auffassung, dass dem Ziel einer effizienten und geordneten Rechtspflege, einschließlich der Verhältnismäßigkeit, besser gedient wäre, wenn das betreffende Strafverfahren in einem anderen Mitgliedstaat durchgeführt würde. Bei ihrer Prüfung eines eventuellen Ersuchens berücksichtigt sie insbesondere die folgenden Kriterien:
- Die Straftat wurde ganz oder teilweise im Hoheitsgebiet des ersuchten Staates begangen oder der Großteil der Auswirkungen der Straftat oder ein wesentlicher Teil des Schadens, die Teile der Tatbestandsmerkmale der Straftat sind, ist im Hoheitsgebiet des ersuchten Staates eingetreten.
- Eine oder mehrere der verdächtigen oder beschuldigten Personen besitzen die Staatsangehörigkeit des ersuchten Staates oder haben dort ihren Wohnsitz.
- Die verdächtige oder beschuldigte Person hält sich im ersuchten Staat auf, und dieser Staat verweigert die Übergabe dieser Personen an den ersuchenden Staat5.
- Eine oder mehrere der verdächtigen oder beschuldigten Personen, gegen die ein Europäischer Haftbefehl vorliegt, halten sich im ersuchten Staat auf, und dieser Staat verweigert die Übergabe dieser Personen6.
- Die meisten für die Ermittlungen relevanten Beweismittel befinden sich im ersuchten Staat oder die meisten relevanten Zeugen haben ihren Wohnsitz in diesem Staat.
- Im ersuchten Staat ist wegen desselben oder eines anderen Sachverhalts ein Strafverfahren gegen die verdächtige oder beschuldigte Person anhängig.
- Im ersuchten Staat ist wegen desselben oder teilweise desselben oder eines damit verbundenen Sachverhalts ein Strafverfahren gegen andere Personen anhängig.
- Eine oder mehrere der verdächtigen oder beschuldigten Personen verbüßen eine freiheitsentziehende Strafe im ersuchten Staat oder sollen sie dort verbüßen.
- Es ist zu erwarten, dass sich durch die Vollstreckung der Strafe im ersuchten Staat die Aussichten auf Resozialisierung der verurteilten Person verbessern, oder die Vollstreckung im ersuchten Staat wäre aus anderen Gründen zweckmäßiger.
- Eines oder mehrere Opfer sind Staatsangehörige des ersuchten Staates oder haben dort ihren Wohnsitz.
- Die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten haben gemäß dem Rahmenbeschluss 2009/948/JI7 oder anderweitig ein Einvernehmen über die Konzentration der Strafverfahren in einem einzigen Mitgliedstaat erzielt.
Rechte der verdächtigen oder beschuldigten Person
Bevor ein Ersuchen um Übertragung eines Strafverfahrens gestellt wird, trägt die ersuchende Behörde den berechtigten Interessen der verdächtigen oder beschuldigten Person Rechnung, einschließlich der Aspekte im Zusammenhang mit der wiedergutmachungsorientierten Strafrechtspflege.
Rechte des Opfers
Bevor ein Ersuchen um Übertragung eines Strafverfahrens gestellt wird, trägt die ersuchende Behörde den berechtigten Interessen des Opfers Rechnung, einschließlich der Aspekte im Zusammenhang mit der wiedergutmachungsorientierten Strafrechtspflege.
Recht auf wirksamen Rechtsbehelf
Verdächtige und beschuldigte Personen sowie Opfer haben das Recht, im ersuchten Staat gegen eine Entscheidung über die Annahme der Übertragung des Strafverfahrens einen wirksamen Rechtsbehelf8 einzulegen. Die Frist für die Einlegung eines wirksamen Rechtsbehelfs beträgt höchstens 15 Tage ab dem Tag des Eingangs der begründeten Entscheidung über die Annahme der Übertragung des Strafverfahrens.
Verfahren für das Ersuchen um Übertragung eines Strafverfahrens
Das Ersuchen um Übertragung eines Strafverfahrens muss hinreichend begründet sein und wird unter Verwendung des Formblatts im Anhang der Verordnung gestellt. Es muss insbesondere folgende Angaben enthalten:
- Informationen zur ersuchenden Behörde;
- eine Beschreibung der Straftat, die Gegenstand des Strafverfahrens ist, sowie die anwendbaren strafrechtlichen Bestimmungen des ersuchenden Staates;
- die Gründe, aus denen die Übertragung eines Strafverfahrens erforderlich und angemessen ist;
- die erforderlichen verfügbaren Angaben zu der verdächtigen oder beschuldigten Person und dem Opfer;
- eine Bewertung der Auswirkungen der Übertragung des Strafverfahrens auf die Rechte der verdächtigen oder beschuldigten Person und des Opfers;
- Angaben zu Verfahrenshandlungen oder -maßnahmen im ersuchenden Staat, die sich auf das Strafverfahren auswirken;
- für die Verarbeitung personenbezogener Daten geltende besondere Bedingungen.
Rücknahme des Ersuchens
Die ersuchende Behörde kann das Ersuchen um Übertragung des Strafverfahrens jederzeit zurücknehmen, bevor ihr die Entscheidung der ersuchten Behörde über die Annahme oder Ablehnung der Übertragung des Strafverfahrens zugeht.
Fristen
Die ersuchte Behörde teilt der ersuchenden Behörde ihre Entscheidung, ob sie die Übertragung des Strafverfahrens annimmt oder ablehnt, unverzüglich, spätestens jedoch 60 Tage nach Eingang des Ersuchens mit. Diese Frist kann um höchstens 30 Tage verlängert werden.
Auswirkungen
Bei Eingang der begründeten Entscheidung, die Übertragung eines Strafverfahrens anzunehmen, oder der endgültigen Entscheidung über den Rechtsbehelf wird das Strafverfahren im ersuchenden Staat nach nationalem Recht ausgesetzt oder eingestellt. Das übertragene Strafverfahren unterliegt dem nationalen Recht des ersuchten Staates.
Maßnahmen, die für die Zwecke des Strafverfahrens oder der von zuständigen Behörden im ersuchenden Staat durchgeführten vorbereitenden Untersuchungen getroffen werden, haben im ersuchten Staat die gleiche Gültigkeit, als wären sie von den zuständigen Behörden des ersuchten Staates rechtsgültig vorgenommen worden.
Von der ersuchenden Behörde übermittelte Beweismittel dürfen in einem Strafverfahren im ersuchten Staat nicht allein deshalb für unzulässig erklärt werden, weil die Beweismittel in einem anderen Mitgliedstaat erhoben wurden.
Folgende Schritte
Die Verordnung tritt am zwanzigsten Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft.
Footnotes
2 Artikel 1 der Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Übertragung von Verfahren in Strafsachen
3 Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Übertragung von Verfahren in Strafsachen, Erwägungsgrund 5.
4 Die vorgelegten Ersuchen stellen für den ersuchenden oder den ersuchten Staat keine Verpflichtung dar, ein Strafverfahren in den ersuchten Staat zu übertragen oder ein Ersuchen in diesem Sinne zu formulieren.
5 Wenn diese Verweigerung nicht auf einer gegen diese Person aufgrund derselben Straftat ergangenen rechtskräftigen Entscheidung beruht, die einer weiteren Strafverfolgung entgegensteht.
6 Sofern er feststellt, dass ausnahmsweise aufgrund genauer und objektiver Anhaltspunkte Grund zu der Annahme besteht, dass die Übergabe unter den besonderen Umständen des Einzelfalls eine offensichtliche Verletzung eines einschlägigen Grundrechts zur Folge hätte.
8 Vorgesehen in Artikel 17 der Verordnung.
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