Gastkommentar. Der Gerichtshof der Europäischen Union stellt die ständige Rechtsprechung des VwGH zum Dauerauftenthalt – EU" auf den Kopf.

Wien. Mit seinem Urteil vom 20. Jänner (C-432/20) stärkte der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Rechte langfristig aufenthaltsberechtigter Drittstaatsangehöriger und stellte damit die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs (VwGH) auf den Kopf.

Ende 2021 hatten in Österreich mehr als 300.000 Drittstaatsangehörige nach wenigstens fünfjähriger rechtmäßiger Niederlassung den Status langfristig Aufenthaltsberechtigter inne. Der Aufenthaltstitel Daueraufenthalt – EU" des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (NAG) geht auf die Richtlinie 2003/109/EG des Rats zurück.

Diese Rechtsstellung ist der Staatsbürgerschaft angenähert und soll nur in Ausnahmefällen verloren gehen: etwa nach der Verurteilung wegen schwerer Straftaten oder einer Abwesenheit von mehr als zwölf aufeinanderfolgenden Monaten aus dem Unionsgebiet.

Nach 20/4 NAG tritt dieser Verlust nicht ein, wenn der Drittstaatsangehörige nachweisen kann, sich pro Zwölfmonatszeitraum wenigstens einen Tag in (irgend)einem EU-Staat aufgehalten zu haben.

2009 fügte der Gesetzgeber dem NAG § 2/7 hinzu, wonach kurzfristige Inlands- und Auslandsaufenthalte die anspruchsbegründende oder -beendende Dauer eines Aufenthalts nicht unterbrechen. Heißt: Wer bloß die Ferien in Österreich verbringt, soll seinen Status selbst dann verlieren, wenn er sich nachweislich nie länger als zwölf aufeinanderfolgende Monate außerhalb des Unionsgebiets aufgehalten hat.

In seiner Leitentscheidung vom 16.12.2014 (Ra 2014/22/0071) setzte sich der VwGH mit dem Verhältnis von § 20/4 und § 2/7 NAG auseinander – und hob nach Amtsrevisionen mehrere Erkenntnisse des Verwaltungsgerichts Wien auf. Dieses hatte den Fortbestand des Daueraufenthaltsrechts von Drittstaatsangehörigen festgestellt, die mehrmals jährlich in Österreich gewesen waren. Hinweise auf die Richtlinie sucht man in der Begründung des VwGH vergeblich.

VwGH strenger als Richtlinie

Im Erkenntnis vom 27. 2. 2020 (Ra 2019/22/0101) widmete der VwGH dem offenkundigen Widerspruch zwischen der Richtlinie und § 2/7 NAG immerhin zwei Absätze und bestätigte den Verlust des Daueraufenthaltsrechts der Revisionswerberin im Hinblick auf das Ziel der Integrationsförderung". Sein bemerkenswertes Argument: Ungeachtet des Fehlens entsprechender Regelungen in der angeführten Richtlinie in Bezug auf den Verlust der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten" sei die Bestimmung des § 2/7 NAG für kurzfristige Aufenthalte im EWRGebiet maßgeblich". Trotz einer Anregung der Revisionswerberin, die bereits mehr als zwanzig Jahre aufenthaltsberechtigt war, sah sich der VwGH nicht veranlasst, dem EuGH die in der Revision angeführten Rechtsfragen zur Vorabentscheidung vorzulegen.

Nun aber widmete der EuGH diesen Fragen nicht zwei Absätze, sondern vier Seiten und gelangte zu einem den Erkenntnissen des VwGH diametral entgegengesetzten Ergebnis: Auch eine Anwesenheit von nur wenigen Tagen pro Zwölfmonatszeitraum in der EU sichert langfristig Aufenthaltsberechtigten ihren Status. Dabei betonte der EuGH auch den Grundsatz der Rechtssicherheit und das Erfordernis klarer, bestimmter und in ihren Auswirkungen vorhersehbarer Rechtsvorschriften. Die Mühen des Beschwerdeführers und des VwG Wien, doch ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zu richten, sind also nicht unbelohnt geblieben und schaffen Rechtssicherheit für Millionen langfristig aufenthaltsberechtigter Drittstaatsangehöriger in der EU. Für Tausende Betroffene, die in den vergangenen acht Jahren ihr Daueraufenthaltsrecht verloren haben, kommt das Urteil vom 20. 1. 2022 dennoch zu spät. Gerade in Zeiten, in denen für fremdenrechtliche Knaller" nicht mehr auf rhetorische Platzpatronen, sondern scharfe normative Munition zurückgegriffen wird, bleibt zu hoffen, dass sich die Verwaltungsgerichte und der VwGH häufiger an den EuGH wenden, wenn europa- und grundrechtlich geschützte Positionen auf dem Spiel stehen.

Originally published by Die Presse Rechtspanorama.

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