Die kürzlich vom Obersten Gerichtshof veröffentlichte Kriminalstatistik für 20191 und jüngere Rechtsprechung zeigen erneut, wie erheblich sich die russische Strafverfolgungspraxis bei Bestechungsdelikten von der anderer Länder unterscheidet. Welche Lehren können Unternehmen mit Russlandgeschäft aus diesen Entwicklungen ziehen?

Lehre 1: Staatlich durchgegriffen wird bei Amtsträgerbestechung

Von staatlicher Seite wird vor allem bei der Bestechung inländischer Amtsträger durchgegriffen. Wegen Bestechungsdelikten verurteilt wurden 2019 insgesamt 344 juristische Personen2. In die schwarze Liste" bestrafter Unternehmen wurden 313 neue Einträge aufgenommen3. Wie in den Jahren zuvor wurden die meisten verurteilten Unternehmen wegen der Bestechung von inländischen Amtsträgern, zu denen auch Angestellte der die russische Wirtschaft prägenden Staatsunternehmen zählen, belangt. Die Verhinderung derartiger Bestechungsdelikte sollte also Kernelement jedes Compliance-Management-Systems in Russland sein.

Auch für natürliche Personen besteht das größte Haftungsrisiko bei der Amtsträgerbestechung. In 2019 stehen 4.726 Verurteilungen wegen Bestechung/Bestechlichkeit von Amtsträgern4 lediglich 198 Verurteilungen wegen Bestechung/Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr5 gegenüber. Zudem rückt der Staat hier von der Verfolgung von Kleinkriminalität ab. 2019 wurden erstmals mehr Personen für Delikte mit Bestechungsgeldern über als unter RUB 10.000 bestraft (2.8426 gegenüber 1.884 Verurteilungen7). Die Behörden scheinen also das Interesse an der Verfolgung der weitverbreiteten Bestechung von Verkehrspolizisten und Schulpersonal zu verlieren8.

Lehre 2: Verfolgungsrisiko umso höher, je geringer die Bestechungssumme

Das Strafverfolgungsrisiko für Unternehmen ist besonders hoch bei Delikten, in denen eher geringe Bestechungsgelder gezahlt werden. In 2019 kamen auf 307 wegen einfacher Bestechung bis zu RUB 1 Mio. verurteilte Unternehmen9 31 Verurteilungen wegen schwerer (ab RUB 1 Mio.)10 und sechs Verurteilungen wegen besonders schwerer Bestechung (ab RUB 20 Mio.)11. Dieses Verhältnis entspricht dem der Vorjahre 2018 (425 einfache Fälle auf 44 schwere und zwei besonders schwere Fälle) und 2017 (429 einfache Fälle auf 37 schwere und elf besonders schwere Fälle). Unternehmen sind daher gut beraten, auch bei Hinweisen auf geringfügige Delikte intern zu ermitteln und entsprechende Verstöße abzustellen.

Lehre 3: Große Unternehmen nicht mehr sakrosankt

Mit der Russian Standard Bank wurde 2019 erstmals öffentlichkeitswirksam ein großes Unternehmen wegen Bestechung bestraft12. Ein Bankmitarbeiter auf der Krim hatte einem Gerichtsvollzieher in einer WhatsApp-Nachricht die Zahlung von 5% aller Beträge angeboten, die von säumigen Schuldnern der Bank eingetrieben werden können. Dafür wurde die Bank in einem über fünf Instanzen bis zum Obersten Gerichtshof durchgefochtenen Verfahren13 wegen schwerer Bestechung eines inländischen Amtsträgers14 zu einer Geldbuße von RUB 26,2 Mio. verurteilt.

Aufgrund der Schwierigkeiten der russischen Behörden bei der Verfolgung komplizierter oder grenzüberschreitender Bestechungsstrukturen wird dieser Fall kaum eine Trendwende hin zur umfassenden Verfolgung russischer Unternehmen für schwerere Bestechungsdelikte einleiten. Allerdings könnte die Verurteilung der Bank ein Anzeichen dafür sein, dass große Unternehmen zumindest bei einfach gelagerten und leicht nachweisbaren Fällen nicht mehr wie bislang von der Strafverfolgung ausgenommen sind.

Lehre 4: Zwar keine vernichtenden Strafzahlungen für Unternehmen...

Die Höhe der von den Gerichten gegenüber delinquenten Unternehmen üblicherweise verhängten Strafzahlungen ist nicht nur im internationalen Vergleich gering. Sie bleibt auch weit zurück hinter den nach russischem Recht möglichen Höchststrafen, die bis zum Hundertfachen der Bestechungssumme reichen können15. Auch in 2019 wurden die meisten Unternehmen nur zur gesetzlichen Mindeststrafe von RUB 1 Mio. verurteilt. Leicht erhöht hat sich allerdings der Höchstbetrag der einem Unternehmen auferlegten Strafzahlung von RUB 30,5 Mio. in 201816 auf RUB 50 Mio. in 201917. Das Gericht der ersten Instanz hatte hier sogar noch eine Strafe von RUB 100 Mio. sowie die Einziehung des Bestechungsgeldes in Höhe von RUB 56 Mio. angeordnet18. Höhere Strafzahlungen sind also nicht ausgeschlossen.

Teilweise erklären lässt sich die geringe Höhe der durchschnittlichen Strafzahlung mit einer weiteren Besonderheit der russischen Strafverfolgung von Unternehmensbestechung – dem bevorzugten Vorgehen gegen kleinere Gesellschaften, bei denen bereits die gesetzliche Mindeststrafe von RUB 1 Mio. eine vernichtende Wirkung entfalten kann. In vielen Fällen sind die Gerichte daher dazu veranlasst, selbst die Mindeststrafe wegen finanzieller Schwierigkeiten des verurteilten Unternehmens weiter herabzusetzen19.

Lehre 5: ... dafür aber ein Internetpranger".

Die für solide Unternehmen schärfste Sanktion bei Bestechungsdelikten besteht deshalb nicht in den eher geringen Strafzahlungen, sondern in der Aufnahme in die auf der Webseite der Generalstaatsanwaltschaft veröffentlichte schwarze Liste wegen Bestechung belangter Unternehmen20, die auch ggf. interessierte ausländische Strafverfolgungsbehörden einsehen können. Insbesondere für international aufgestellte Unternehmen kann die Aufnahme in die schwarze Liste neben dem Reputationsverlust somit auch ein zusätzliches Strafverfolgungsrisiko im Ausland begründen.

Der eigentliche Zweck der schwarzen Liste ist der Ausschluss bestrafter Unternehmen von der staatlichen Beschaffung für die Dauer von zwei Jahren. Die Daten ausgeschlossener Unternehmen werden den für die Beschaffungsprozesse zuständigen Behörden jedoch nicht in einem automatisierten Verfahren zur Verfügung gestellt21. Wie die Ergebnisse einer von der Generalstaatsanwaltschaft initiierten Prüfung zeigen, scheint es beim Ausschluss delinquenter Unternehmen von der Beschaffung in der Praxis daher erhebliche Durchsetzungsdefizite zu geben. So konnten in 2019 22 Unternehmen trotz Aufnahme in die Liste in 36 Regionen Beschaffungsverträge abschließen22.

Lehre 6: Schon wenige Antikorruptionsmaßnahmen können genügen

In dem oben genannten Verfahren gegen die Russian Standard Bank wurde auch die Rechtsprechung zur Wirkung von Compliance-Management-Systemen fortentwickelt. Erstmals hat nun ein höheres russisches Gericht, nämlich das Vierte Kassationsgericht der allgemeinen Gerichtsbarkeit, ausgeführt, welche konkreten Antikorruptionsmaßnahmen ein Unternehmen ergreifen muss, um von der Haftung wegen Bestechung befreit zu werden23. Auch wenn die entsprechende Entscheidung anschließend aus prozessualen Gründen aufgehoben wurde24, gibt sie dennoch einen interessanten Einblick in die möglichen gerichtlichen Anforderungen an das Compliance-Management-System.

Im vorliegenden Fall war das Gericht der Auffassung, dass die Russian Standard Bank mit dem Erlass einer internen Antikorruptionsverordnung, dem Vertrautmachen der betroffenen Mitarbeiter mit dieser Verordnung sowie einer allgemeinen Verpflichtung zur Befolgung derartiger Verordnungen im Arbeitsvertrag bereits alle zur Vermeidung der Tat erforderlichen Maßnahmen ergriffen hatte. In bestimmten Konstellationen können also schon wenige formale Antikorruptionsmaßnahmen ausreichen, um eine Unternehmenshaftung wegen Bestechung auszuschließen.

Lehre 7: Ausländische Unternehmen demnächst im Visier

Bislang beschränkt sich die russische Strafverfolgung von Bestechungsdelikten fast ausschließlich auf rein inländische Sachverhalte. Ausländer aus Ländern außerhalb der GUS werden lediglich vereinzelt zur Verantwortung gezogen (49 Verurteilungen in 2019 und 59 in 2018), ausländische Unternehmen nur ausnahmsweise verfolgt. Die Bestechung ausländischer Amtsträger scheint trotz des Beitritts Russlands zum OECD-Übereinkommen zur Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr in 2012 nicht verfolgt zu werden.

Ende 2019 ist nun eine Gesetzesänderung in Kraft getreten, die die verstärkte Verfolgung ausländischer Unternehmen für inner- oder außerhalb Russlands begangene Bestechungsdelikte ermöglichen soll. Für den Fall, dass die Staatsanwaltschaft im Zuge einer Ermittlung Amtshilfe bei ausländischen Behörden beantragt, kann die zulässige Dauer des Ermittlungsverfahrens von zuvor maximal zwei auf zwölf Monate verlängert werden25. Zum Zweck der Amtshilfe kann eine Reihe von Rechtshilfeabkommen herangezogen werden, u.a. mit einer Vielzahl europäischer Länder26 und den Vereinigten Staaten27. Im aktuellen politischen Klima ist es sicherlich fraglich, ob es hier tatsächlich zu einer verstärkten Zusammenarbeit der russischen Strafverfolgungsbehörden mit ihren ausländischen Amtskollegen kommen wird. In jedem Fall begründet diese Gesetzesänderung für ausländische Unternehmen in Russland aber das neue Risiko, bei Bestechungsvorwürfen einem länger andauernden Ermittlungsverfahren ausgesetzt zu sein.

Footnotes 

1 http://www.cdep.ru/index.php?id=79
2 Gemäß Artikel 19.28 russ. OWiG (Rechtswidrige Vergütung im Namen einer juristischen Person).
3 http://genproc.gov.ru/anticor/register-of-illegal-remuneration/1558822/
4 Gemäß Artikel 290 (Bestechlichkeit von Amtsträgern), 291 (Bestechung von Amtsträgern) und 291.2 (geringfügige Bestechungsdelikte mit Amtsträgern) russ. StGB.
5 Gemäß Artikel 204 russ. StGB (Bestechung und Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr).
6 Gemäß Artikel 290 und 291 russ. StGB.
7 Gemäß Artikel 291.2 russ. StGB.
8 https://www.rbc.ru/society/30/04/2020/5e9daa0e9a794771cc07e9bd
9 Gemäß Artikel 19.28 Abs. 1 russ. OWiG.
10 Gemäß Artikel 19.28 Abs. 2 russ. OWiG.
11 Gemäß Artikel 19.28 Abs. 3 russ. OWiG.
12 http://genproc.gov.ru/smi/news/archive/news-1658840/
13 Entscheidung des Obersten Gerichtshofs der Russischen Föderation vom 20. Februar 2020 Nr. 18-AD20-3.
14 Gemäß Artikel 19.28 Abs. 2 russ. OWiG.
15 Für besonders schwere Bestechung gemäß Artikel 19.28 Abs. 3 russ. OWiG.
16 http://genproc.gov.ru/smi/news/archive/news-1358326/
17 http://genproc.gov.ru/smi/news/archive/news-1693570/
18 Entscheidung des Friedensgerichts des Gerichtsbezirks Nr. 23 des Bezirks Juschno-Sachalinsk des Oblast Sachalin vom 4. April 2019 in der Sache Nr. 5-47/2019.
19 Gemäß Artikel 4.1 Abs. 3 russ. OWiG.
20 http://genproc.gov.ru/anticor/register-of-illegal-remuneration/.
21 Die Einrichtung eines automatisierten Verfahrens zum Erhalt der Daten über ausgeschlossene Unternehmen durch die für Beschaffungsprozesse zuständigen Behörden ist unter Ziff. 32a) des Nationalen Korruptionsbekämpfungsplans für 2018-2020 jedoch vorgesehen.
22 http://genproc.gov.ru/smi/news/genproc/news-1831574/
23 Entscheidung des Vierten Kassationsgerichts der allgemeinen Gerichtsbarkeit vom 26. November 2019 Nr. 16-278/2019.
24 Entscheidung des Obersten Gerichtshofs der Russischen Föderation vom 20. Februar 2020 Nr. 18-AD20-3.
25 http://kremlin.ru/acts/news/62183
26 Europäisches Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen von 1959.
27 Abkommen zwischen der Russischen Föderation und den Vereinigten Staaten von Amerika über die gegenseitige Rechtshilfe in Strafsachen von 1999.

Originally published 03 June 2020

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