Die neue Verfahrensordnung der Beschwerdekammern, VOBK 2020, ist nun seit einem Jahr in Kraft und mit ihr deutlich verschärfte Verspätungsmaßstäbe (s. insb. Art. 12, 13(1) und 13(2) VOBK 2020). Zu den geänderten Art. 13(1) und (2) VOBK 2020 liegen bereits erste Entscheidungen der technischen Beschwerdekammern des EPA vor. Dieser IP Report beleuchtet die Anwendung der geänderten Art. 13(1) und (2) VOBK 2020 in diesen ersten Entscheidungen sowie ihre Auswirkung auf die Praxis und gibt einen Ausblick auf die zu erwartende ähnliche Anwendung des neuen Art. 12 VOBK 2020. Für Patentinhaber und Einsprechende gilt grundsätzlich, dass sie ihre Beschwerdevorbingen so früh und vollständig wie möglich vorbringen müssen. Änderungen des Vorbingens müssen in direkter Reaktion auf den Vortrag der jeweils anderen Partei eingereicht werden. Zudem müssen rechtfertigende Gründe für die Änderung des Vorbringens angegeben werden, um deren Berücksichtigung in der Entscheidung der Beschwerdekammern nicht zu gefährden. 

1. Rechtliche Grundlagen 

Am 1. Januar 2020 trat die neue Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK 2020) in Kraft, mit der insbesondere die Vorschriften zum verspäteten Vorbringen gegenüber der VOBK 2007 verschärft wurden. Nach wie vor gilt, dass die Beschwerdebegründung und die Erwiderung – also der jeweils erste Schriftsatz der Beteiligten im Beschwerdeverfahren – den vollständigen Sachvortrag enthalten müssen (s. Art. 12 (2) VOBK 2007 bzw. Art. 12 (3) VOBK 2020).

Die frühere Fassung der Verfahrensordnung (VOBK 2007) gab der Beschwerdekammer zwar mit Art. 12 (4) die Befugnis, Tatsachen, Beweismittel oder Anträge nicht zuzulassen, die bereits erstinstanzlich hätten vorgebracht werden können. Der Grundsatz war jedoch, dass das gesamte Vorbringen in der Beschwerdebegründung bzw. Beschwerdeerwiderung zu berücksichtigen war. Die VOBK 2020 dreht dies nun praktisch um: Sie gibt im neu gefassten Art. 12 (2) i.V.m. Art. 12 (4) an, dass Vorbringen, das nicht auf dasjenige gerichtet ist, was der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegt, als Änderung zu betrachten ist. Grundsätzlich sollen solche Änderungen unberücksichtigt bleiben, sofern die Beschwerdekammer diese nicht aufgrund ihres Ermessens nach Art. 12 (4) VOBK 2020 zulässt. Zudem können nun nicht nur neue Tatsachen, Beweismittel oder Anträge von der Zulassung ausgeschlossen sein, sondern auch neue Einwände und bloße Argumente, die Art. 12 (2) VOBK 2020 explizit nennt.

Ähnlich wurde die Verfahrensordnung im Hinblick auf Änderungen im Laufe des Beschwerdeverfahrens verschärft. Die Beschwerdekammer hatte gemäß VOBK 2007 zwar bereits das Ermessen solche Änderungen zuzulassen, nun müssen hierfür aber zwingend rechtfertigende Gründe seitens des Beteiligten angegeben werden (Art. 13 (1) S. 1, 3 VOBK 2020). Gemäß der neu gefassten Vorschrift (Art. 13 (1) S. 4 VOBK 2020) wird bei Ausübung des Ermessens nun zudem nicht nur der Stand des Verfahrens und die Verfahrensökonomie berücksichtigt, sondern u. a. auch, ob die Änderung zur Lösung von im Beschwerdeverfahren aufgeworfenen Fragen dient. Bei Änderung eines Patents oder einer Patentanmeldung muss der Beteiligte außerdem aufzeigen, dass die Änderung dazu geeignet ist, die im Beschwerdeverfahren aufgeworfenen Fragen prima facie auszuräumen und zudem keinen Anlass zu neuen Einwänden gibt.

Wird die Änderung des Beschwerdevorbringens nach Ablauf einer von der Beschwerdekammer gesetzten Frist (R. 100 (2) EPÜ) oder nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung eingereicht, so bleibt diese Änderung nun grundsätzlich unberücksichtigt (Art. 13 (2) VOBK 2020). Einzig in Ausnahmefällen, nämlich beim Vorliegen außergewöhnliche Umstände, die von dem Beteiligen stichhaltig begründet werden müssen, kann eine derart späte Änderung des Beschwerdevorbringens zugelassen werden. 

2. Rechtspraxis – Die Entscheidungen

Wie die hier vorgestellten Entscheidungen der Beschwerdekammern zeigen, werden die Änderungen der Art. 13(1) und (2) VOBK 2020 konsequent umgesetzt.

a. In den beiden Entscheidungen T 752/16 und T 995/18 ließen die Beschwerdekammern geänderte Hilfsanträge, die nach Zustellung der Ladung eingereicht wurden, nicht zu, obwohl sie auf Einwände der Beschwerdekammer gerichtet waren, die von ihr erstmals aufgegriffen wurden. Zur Begründung gab die Beschwerdekammer jeweils an, dass ihre Einwände auf solche gestützt waren, die von der Einsprechenden bereits früher vorgebracht wurden:

Im Beschwerdeverfahren T 752/16 äußerte die Beschwerdekammer in einer ersten Mitteilung noch eine für die Patentinhaberin positive vorläufige Meinung. Diese vorläufige Meinung wurde in einer zweiten Mitteilung revidiert. Die nach der Ladung zur mündlichen Verhandlung, aber in Reaktion auf die zweite Mitteilung eingereichten Hilfsanträge wurden als verspätet zurückgewiesen (Art. 13(2) VOBK 2020). Die Beschwerdekammer führte aus, dass bis zur Verkündung der Entscheidung jederzeit mit einer Änderung der vorläufigen Meinung gerechnet werden müsse. Insbesondere sei eine Änderung der vorläufigen Meinung kein „außergewöhnlichen Umstand“ im Sinne von Art. 13 (2) VOBK 2020. Da die Änderung der vorläufigen Meinung auf in der Beschwerdebegründung vorgebrachten Einwänden beruhte, hätte die Patentinhaberin bereits mit ihrer Beschwerdeerwiderung entsprechende Hilfsanträge vorbringen müssen.

Diese Entscheidung wurde im Beschwerdeverfahren T 995/18 bestätigt. Die Beschwerdekammer ließ einen geänderten Hauptantrag nicht zu, der in der mündlichen Verhandlung in Reaktion auf einen von der Kammer erstmals aufgegriffenen Klarheitseinwand bezüglich eines abhängigen Anspruchs eingereicht wurde. Hierzu führte die Kammer aus, dass dieser Klarheitseinwand bereits im Einspruchsverfahren vorgebracht worden war. Die Patentinhaberin hätte daher spätestens mit ihrer
Beschwerdeerwiderung auf den Einwand reagieren müssen.

Weiterhin äußerte die Beschwerdekammer in den obigen beiden Entscheidungen Zweifel, ob die geänderten Anträge überhaupt den Kriterien des Art. 13(1) VOBK 2020 genügt hätten, d. h. ob sie bereits aufgeworfene Fragen ausräumen und zudem keinen Anlass zu neuen Einwänden gegeben hätten, was die Kammer auch bei Vorliegen eines „außergewöhnlichen Umstands“ bei der Zulassung hätte berücksichtigen müssen.

b. In den Beschwerdeverfahren T 1482/17 und T 1278/18 erkannte die Beschwerdekammer dagegen einen „außergewöhnlichen Umstand“ im Sinne des Art. 13 (2) VOBK 2020 an. Hier wurden – und das ist ein Lichtblick – geänderte Hilfsanträge zugelassen, obwohl diese erst nach der Ladung zur mündlichen Verhandlung eingereicht wurden. Aus Sicht der Kammer war ein "außergewöhnlicher Umstand" gegeben, denn die Hilfsanträge wurden in unmittelbarer Reaktion auf erstmals von der Kammer ex officio vorgebrachten Einwänden eingereicht. Im Gegensatz zu den vorgenannten Entscheidungen T 752/16 und T 995/18 reagierte die Patentinhaberin dabei zum frühestmöglichen Zeitpunkt auf die neuen Einwände, sodass die Hilfsanträge zuzulassen waren.

c. In der Entscheidung T 995/18 ließ die Beschwerdekammer die Streichung eines Unteranspruchs aus einem Anspruchssatz zu, die erst in der mündlichen Verhandlung erfolgte. Die Kammer entschied, dass es sich im konkreten Fall bei der Streichung um keine Änderung des Beschwerdevorbringens handelte, da diese weder die anderen Ansprüche in ein neues Licht setzte noch sonstige Auswirkungen auf das Beschwerdevorbringen der Patentinhaberinnen hatte. Somit war Art. 13(2) VOBK 2020 nicht anzuwenden. Die Streichung war daher nicht als verspätet zurückzuweisen, auch wenn sie erst nach der Ladung zur mündlichen Verhandlung erfolgte.

d. Neue Einwände und neue Argumente basierend auf bereits im Verfahren befindlichen Dokumenten wurden in den Entscheidungen T 995/18 und T 908/19 zurückgewiesen:

In der Entscheidung T 995/18 wurde Art. 13(2) VOBK 2020 auf das Vorbringen neuer Einwände angewandt. Ein erstmals in der mündlichen Verhandlung vorgebrachter Einwand wegen mangelnder Ausführbarkeit im Hinblick auf ein bestimmtes Merkmal wurde als verspätet zurückgewiesen, da sich der Einwand gegen ein bereits im ursprünglichen Anspruch befindliches Merkmal richtete. Der Einwand hätte daher bereits früher vorgebracht werden können. Die Beschwerdekammer sah es nicht als "außergewöhnlichen Umstand" an, dass der Einsprechenden dieser Einwand erst zu einem späteren Zeitpunkt eingefallen sei.

In der Entscheidung T 908/19 wurden vom Einsprechenden nach Zustellung der Ladung neue Einwände zur mangelnden erfinderischen Tätigkeit ausgehend von bereits im Verfahren befindlichen Dokumenten eingereicht, nachdem die Beschwerdekammer eine für den Einsprechenden ungünstige vorläufige Auffassung zu erkennen gegeben hatte. Auch dieses neue Vorbringen wurde von der Beschwerdekammer nicht zugelassen, da es keinen „außergewöhnlichen Umstand“ im Sinne des Art. 13(2) VOBK 2020 dafür erkennen konnte, dass der entsprechende Vortrag nicht früher erfolgte.

e. Nicht zuzulassen sind Änderungen des Beschwerdevorbringens auch dann, wenn der Beteiligte keine Gründe für die Änderungen angibt. Die Beschwerdekammer ließ in den Entscheidungen T 1004/18 und T 2279/16 beispielhaft unbegründet neu vorgebrachte Hilfsanträge nicht zum Verfahren zu. In der T 2279/16 stellte die Kammer zudem fest, dass Art. 13(2) VOBK auch dann anzuwenden ist, wenn die mündliche Verhandlung abgesagt wurde. 

3. Handlungsempfehlungen

Aus der letztjährigen Entscheidungspraxis der Beschwerdekammern bezüglich Art. 13(1) und (2) VOBK 2020 ergibt sich, dass alle Angriffe und Verteidigungsmittel so früh wie möglich vorgebracht werden sollten, d. h. sobald die entsprechende Verteidigung bzw. das entsprechende Angriffsmittel im Verfahren vorliegt.

Eine Änderung des Beschwerdevorbringens erst in Reaktion auf die Änderung oder die erstmalige Äußerung einer vorläufigen Meinung der Beschwerdekammer wird höchstwahrscheinlich erfolglos bleiben, wenn die vorläufige Meinung lediglich bereits im Verfahren befindliche Standpunkte aufgreift. Alle Änderungen des Beschwerdevorbringens sind vielmehr nur in unmittelbarer Reaktion auf erstmals vorgebrachte entsprechende Einwände aussichtsreich. Die Änderungen sollten außerdem als solche benannt und es sollte begründet werden, weshalb sie zuzulassen sind. Ansonsten riskiert der Beteiligte eine Nichtzulassung, selbst wenn objektiv Zulassungsgründe vorlägen. 

Ausblick

Im Hinblick auf den ebenfalls geänderten Art. 12 VOBK 2020, bei dem eine ähnlich strenge Handhabung wie bei den geänderten Art. 13(1) und (2) VOBK 2020 zu erwarten ist, empfiehlt es sich, das gesamte Vorbringen, d. h. insbesondere alle Anträge, Tatsachen, Einwände, Argumente und Beweismittel bereits erstinstanzlich, vor dem in der Mitteilung nach Regel 116 (1) EPÜ bestimmten Zeitpunkt vorzubringen.

Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die geänderten Art. 12(4) und (6) VOBK 2020. Denn nach Art. 12 (2) i.V.m. Art. 12 (4) VOBK 2020 müssen Anträge, Tatsachen, Einwände, Argumente und Beweismittel, die nicht Grundlage der erstinstanzlichen Entscheidung waren, erst von der Kammer zugelassen werden, damit sie Gegenstand des Beschwerdeverfahrens werden, wobei hier hohe Hürden zu erwarten sind. Gemäß Art. 12 (6) EPÜ werden insbesondere Anträge, Tatsachen, Einwände oder Beweismittel, die erstinstanzlich vorzubringen gewesen wären, grundsätzlich nicht zugelassen, es sei denn die Umstände der Beschwerdesache rechtfertigen dies.

Wie streng die Beschwerdekammern ihr Ermessen gemäß Art. 12 (4) und Art. 12 (6) VOBK 2020 ausüben und welche Umstände eine Zulassung gemäß Art. 12 (6) VOBK 2020 rechtfertigen, bleibt zwar abzuwarten, da hierzu, aufgrund der Übergangsbestimmungen (s. Art. 25(2) VOBK 2020) noch keine Entscheidungen der Beschwerdekammern
vorliegen. Allerdings ist angesichts der Rechtsprechung zu Art. 13 VOBK 2020 damit zu rechnen, dass das Ermessen gemäß Art. 12 VOBK 2020 ähnlich eng ausgeübt wird und neues Vorbringen grundsätzlich nicht zugelassen wird, wenn die entsprechenden Einwände oder Ansprüche schon erstinstanzlich vorlagen, so dass das Vorbringen erstinstanzlich bereits hätte erfolgen müssen.

In der Praxis heißt dies, dass der vorausschauende Einsprechende, der Präklusionsrisiken vermeiden möchte, bereits erstinstanzlich alle möglichen Kombination von Druckschriften im Hinblick auf mangelnde erfinderische Tätigkeit anführen sollte. Denn erst später vorgebrachte Angriffe könnten als neue Einwände nicht mehr zugelassen werden, selbst wenn sie auf bereits in anderem Zusammenhang diskutierten Dokumenten beruhen, wie in der T 908/19. Ja sogar einzelne Argumente könnten nicht mehr zugelassen werden, selbst wenn sie sich auf einen bereits vorgebrachten Einwand beziehen. Hier bleibt abzuwarten, wie streng bzw. feinkörnig die Rechtsprechung mit neuen Argumenten umgehen wird.

Andererseits sind Patentinhaber, die Präklusionsrisiken vermeiden möchten, dazu gezwungen, zahlreiche Hilfsanträge bereits erstinstanzlich einzureichen. Werden etwa im Einspruchsverfahren alle Ansprüche eines Patents aus unterschiedlichen Gründen angegriffen, so müssten dann nicht nur gestaffelte Hilfsanträge, die auf geänderte unabhängige Ansprüche gerichtet sind, eingereicht werden, sondern – konsequent zu Ende gedacht – auch Permutationen der gestaffelten unabhängigen Ansprüche mit unterschiedlichen Fassungen der abhängigen Ansprüche. Denn selbst Änderungen eines einzelnen abhängigen Anspruchs können bereits – wie in der T 995/18 – von der Zulassung ausgeschlossen werden. Dem Patentinhaber bleibt ansonsten allenfalls – wie ebenfalls in der T 995/18 – die Streichung des entsprechenden abhängigen Anspruchs. Ob diese Entwicklung die Verfahrensökonomie fördert, darf zumindest bezweifelt werden.

Ein möglicher Mittelweg könnte es sein, einen Hilfsantrag einzureichen, der alle aufgeworfenen Einwände auszuräumen sucht und die weiteren Hilfsanträge im Übrigen auf die wichtigsten weiteren Merkmalskombinationen zu beschränken. Eine Anwendung dieses Mittelwegs erscheint zwar unbefriedigend, da er dem Patentinhaber die vollständige Flexibilität im Umgang mit seinem Patent bzw. seiner Patentanmeldung nimmt. Praktische Erwägungen könnten allerdings zu solchen Ansätzen zwingen und es bleibt zu hoffen, dass die Beschwerdekammern diesen Bedenken Rechnung tragen werden.

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