Moderne Kartellgesetze enthalten in der Regel eine «Bagatellklausel». Abreden über denWettbewerb mit bloss geringfügigen Wirkungen brauchen von den Behörden nicht unbedingt aufgegriffen und vertieft untersucht zu werden (De-minimis- Prinzip). Gemäss dem schweizerischen Kartellgesetz ist zu entscheiden, ob ein bestimmter Sachverhalt sich auf den Wettbewerb «erheblich» auswirkt. Für die helvetische Spielart derBagatellklausel wird teilweise seit langem eine im internationalen Vergleich besondere Auslegung gefordert. Das Kriterium der Erheblichkeit bezwecke nicht bloss die Aussonderung von Bagatellfällen, sondern sei «Kernthema der materiellrechtlichen Prüfung».

Die praktische Bedeutung der Frage kann anhand derWeko-Entscheide zum VW/Audi-Fall von 2000 einerseits und zum BMW-Fall von 2012 andererseits veranschaulicht werden. Der BMW-Entscheid der Weko wurde 2015 vom Bundesverwaltungsgericht (BVGer) aufrechterhalten und liegt jetzt beim Bundesgericht. In beiden Fällen hatte der Automobilhersteller seinen Händlern in den EU- und den übrigen EWR-Staaten verboten, Fahrzeuge an in der Schweiz wohnhafte Personen zu liefern. Das lief auf einen absoluten Gebietsschutz für Händler in der Schweiz hinaus. Die Vertriebssysteme hatten in beiden Fällen für die meisten Fahrzeugtypen um 20 bis 30 Prozent höhere Endverbraucherpreise zur Folge.

Die «Erheblichkeit» des VW/Audi-Falles war in der Weko strittig. Nach langen Verhandlungen wurde die Untersuchung wegen angeblich ungenügender Beweise eingestellt. Damit wurde vermieden, dass die fragliche Art von Abreden als «unerheblich » erklärt wurde und für die Zukunft aus dem Prüfungsraster des Kartellartikels fiel. Auf Druck der Politik erliess dann die Weko 2002 ihre erste Vertikalbekanntmachung, welche einige Arten vertikaler Abreden für «erheblich» erklärte. Dem Gesetzgeber genügte dies freilich nicht. Im Rahmen der Teilrevision des Gesetzes von 2003 statuierte er die vermutliche Unzulässigkeit u. a. von Vertriebsverträgen mit absolutem Gebietsschutz. Parlamentarier verschiedenster Couleur (SP, CVP, FDP und SVP) liessen sich dabei vom EU-Recht inspirieren.

Getreu demWillen des Gesetzgebers verbot die Weko zwischen 2010 und 2012 in den Fällen Gaba, BMW und Nikon den absoluten Gebietsschutz. Gegen alle drei Entscheide wurde Beschwerde erhoben. In den Fällen Gaba undBMW– Nikon steht noch aus – hat das BVGer dieWeko-Entscheide geschützt. Die Unternehmen hatten jeweils vorgebracht, ihre Praktiken seien nicht «erheblich». Die Bundesverfassung ermögliche behördliches Vorgehen nur gegen «volkswirtschaftlich oder sozial schädliche Kartelle»; und dass Vertikalabreden generell wettbewerbsfreundlich seien, beweise die ökonomische Theorie. Das BVGer hat in seinen Urteilen argumentiert, es gehe um Praktiken, die nach dem Gesetz vermutungsweise unzulässig sind. Somit seien sie grundsätzlich erheblich. Ob sie zulässig seien, beurteile sich nach den gesetzlichen Effizienzkriterien. Entsprechende Vorteile seien in den konkreten Fällen nicht nachweisbar. Die Urteile liegen zurzeit beim Bundesgericht.

Die Befürworter einer extensiv verstandenen Erheblichkeit zäumen sozusagen das Pferd am Schwanz auf. Wettbewerbsabreden auf die in der Verfassung genannten Wirkungen hin zu untersuchen, ist sehr wohl das Anliegen des Kartellgesetzes. Dies hat in Anwendung der Kartellvorschrift des Gesetzes insgesamt zu geschehen – sicher nicht mithilfe des Kriteriums der Erheblichkeit allein. Was wäre denn der Sinn des gesetzlichen Prüfungsrasters, wenn «souveräne» Interpreten mit nicht nachvollziehbaren Verdikten über die «Erheblichkeit » eines Falles und damit über diesen selbst urteilen könnten? Die ganze wettbewerbliche Tragweite einer Abrede unter dem Titel der Erheblichkeit abzuhandeln, bedeutete nichts anderes als Willkür. Richtig verstanden, ist die Bagatellklausel ein Ermessenskriterium zuhanden der Wettbewerbsbehörde, das v. a. auch im Kontext der Prioritätensetzung – diese obliegt gemäss Gesetz der Weko – zu sehen ist.

Man könnte den Verdikten der hohen Richter mit Gelassenheit entgegensehen, wenn nicht Anzeichen bestünden, dass inner- und ausserhalb der zuständigen Gremien Kräfte amWerk sind, welche das Rad der Geschichte im Schweizer Kartellrecht zurückdrehen möchten. Der allerneueste Entscheid des BVGer (Altimum) zeigt in diese Richtung. Das Bundesgericht seinerseits wird seit Wochen in Aufsätzen von Interessenvertretern förmlich beschworen, die Erheblichkeit grosszügig zu interpretieren, das heisst, die Urteile des BVGer in den Fällen Gaba und BMW aufzuheben. Damit würde ubiquitäre wettbewerbsrechtliche Logik, vor allem aber der explizite Wille des Schweizer Gesetzgebers missachtet.

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