Das Kartell

Am 19. Juli 2016 hat die Europäische Kommission gegen die LKW-Hersteller Volvo/Renault, Daimler, IVECO und DAF eine Rekord-Geldbuße in Höhe von EUR 2,93 Mrd. wegen Verstoßes gegen das europäische Kartellrecht verhängt. Nach den Feststellungen der Kommission haben die LKW-Hersteller im Zeitraum von 1997 bis 2011 Verkaufspreise für mittelschwere (6-16t) und schwere (>16t) Lastkraftwagen abgesprochen und die mit der Einhaltung der strengeren Emissionsvorschriften verbundenen Kosten in abgestimmter Form an die Kunden weitergegeben.

Gegen MAN wurde keine Geldbuße verhängt, da das Unternehmen die Kommission über die Existenz des Kartells informiert hatte. MAN wäre nach Kommissionsangaben andernfalls eine Geldbuße von etwa EUR 1,2 Mrd. auferlegt worden.

Alle genannten Unternehmen haben eine Reduzierung der Geldbuße um 10% erhalten, weil sie ihre Beteiligung am Kartell einräumten und die Verantwortung dafür übernahmen. Gegen Scania ist das Verfahren noch anhängig.

Welche LKW sind betroffen?

Von der Entscheidung der Kommission betroffen sind mittelschwere (6 bis 16 t) und schwere (ab 16 t) Lastkraftwagen. Das Kartell, welches sich über den gesamten EWR erstreckte, wurde 1997 gegründet und bestand fort, bis die Kommission im Jahr 2011 Durchsuchungen der Geschäftsräume der beteiligten Unternehmen durchführte.

Welche Kunden sind betroffen?

Käufer und Leasingnehmer von LKW: Potenziell betroffen sind in erster Linie die direkten Kunden der Kartellanten, also Unternehmen, die zwischen den Jahren 1997 und 2011 im Europäischen Wirtschaftsraum mittelschwere oder schwere Lastwagen direkt oder indirekt von MAN, Volvo/Renault, Daimler, IVECO und DAF gekauft oder geleast haben.

Abnehmer von Speditionsdienstleistungen: Ebenfalls betroffen können Unternehmen sein, die im Kartellzeitraum Speditionsdienstleistungen im EWR in Anspruch genommen haben.

Welcher Schaden ist entstanden?

Laut einer vom Bundeskartellamt zitierten Studie führen Kartellabsprachen zu im Durchschnitt 25% überhöhten Preisen.1 Die exakte Berechnung des Kartellschadens erfolgt anhand der Differenz zwischen dem im Kartellzeitraum tatsächlich gezahlten Preis (Kartellpreis) und dem hypothetischen Wettbewerbspreis, d.h. dem Preis, der gezahlt worden wäre, wenn das Kartell nicht bestanden hätte.

Im LKW-Fall muss der genaue Schaden noch ermittelt werden. Eine Reihe von Faktoren spricht hier aber nach der ökonomischen Theorie2 für das Vorliegen eines hohen Preisaufschlages:

  • Überschaubare Anzahl von Kartellmitgliedern
  • Breite Marktabdeckung des Kartells
  • Geringe Heterogenität der Kartellanten (d.h. ähnliche Größe der kartellbeteiligten Unternehmen)
  • Hohe Markteintrittsbarrieren
  • Lange Kartelldauer

Zinsen: Der kartellbedingte Preisaufschlag ist zusätzlich zu verzinsen, und zwar seit Juli 2005 ab Schadensentstehung mit mindestens 5% über Basiszins. Gerade bei länger zurückliegenden Käufen beträgt der Zinsanspruch mittlerweile über 60% des Hauptanspruchs.

BERECHNUNGSBEISPIEL

K erwirbt am 1.1.2006 zehn LKW zu einem Nettopreis von 1.000.000 €. Es wird eine kartellbedingte Überzahlung von 25% = 250.000 € festgestellt. Die auf diesen Betrag entfallenden Zinsen belaufen sich zum Ende des Jahres 2016 auf ca. 154.000 €. Der insgesamt zu zahlende Schadensersatz beträgt daher über 400.000 €.

Bedeutung der Kommissionsentscheidung für Schadensersatzansprüche

Bindungswirkung

Mit Rechtskraft der Kommissionsentscheidung steht für deutsche Zivilgerichte bindend fest, dass die betroffenen Unternehmen gegen das Kartellverbot verstoßen haben. Das ist wichtig für den nachfolgenden Schadensersatzprozess. Der Kläger muss den Kartellverstoß hier nicht mehr nachweisen.

Die verhängten Geldbußen wirken sich nicht schadensmindernd aus. Dem Kläger verbleibt daher ungeachtet der hohen Bußen sein voller Anspruch auf Schadensersatz.

Beweis der Schadensentstehung

Nach der Rechtsprechung der deutschen Gerichte besteht ein Anscheinsbeweis, dass eine verbotene Preisabsprache zu einem Schaden in Form von überhöhten Preisen führt. Künftig wird es sogar eine gesetzliche Vermutung geben, dass eine Kartellabsprache zu einem Schaden führt.

Gesamtschuldner

Die am Kartell beteiligten Unternehmen haften als Gesamtschuldner. Der Geschädigte kann daher wählen, wen er für seinen Schaden in Anspruch nimmt. Hierbei können unterschiedliche Gesichtspunkte eine Rolle spielen (z.B. der Unternehmenssitz, die Bedeutung des Unternehmens als Geschäftspartner, seine Zahlungsfähigkeit, die Rolle des Unternehmens im Kartell oder die Stellung als Kronzeuge).

Verjährung

In Deutschland verjähren Ansprüche

  • innerhalb von 3 Jahren ab Kenntnis bzw. Kennenmüssen der relevanten anspruchsbegründenden Tatsachen oder
  • kenntnisunabhängig innerhalb von 10 Jahren ab Anspruchsentstehung.

Während der Dauer des Kommissionsverfahrens bis zu dessen rechtskräftigem Abschluss ist die Verjährung gehemmt. Rechtskraft tritt frühestens 2 Monate nach Erlass des Bußgeldbescheides ein, d.h. am 19.9.2016. Die Verjährung beginnt erst 6 Monate nach Rechtskraft des Bußgeldbescheides weiter zu laufen, d.h. frühestens am 19.3.2017.

Geht man davon aus, dass mit der Durchsuchung durch die Kommission am 18.1.2011 die Verjährung gehemmt wurde, so verjähren die ersten Ansprüche (aus LKW Käufen bis einschließlich 31.12.2001) Anfang 2018. Es ist aber auf jeden Fall ratsam, die individuelle Verjährungssituation noch vor Ablauf der Hemmung im März 2017 zu prüfen. Gegebenenfalls wären dann verjährungshemmende Maßnahmen zu ergreifen (Verjährungsverzichtsvereinbarung oder Klageerhebung), um unnötige Verjährungsdiskussionen zu vermeiden.

Vier Phasen der Anspruchsdurchsetzung

Phase 1: Informationsbeschaffung

Die Arbeit in Phase 1 schafft das Fundament für eine erfolgreiche Anspruchsverfolgung. Sie besteht aus der Feststellung des tatsächlich gezahlten Preises sowie der Ermittlung des hypothetischen Wettbewerbspreises.

1. Feststellung des tatsächlich gezahlten Preises

Der erste Schritt zur Schadensfeststellung erfolgt im eigenen Unternehmen. Zunächst ist anhand der im Unternehmen befindlichen Daten der tatsächlich gezahlte Preis zu ermitteln (Welche LKW wurden zu welchem Preis angeschafft?).

  • Datensatz: Geschädigte sollten ihre Käufe von LKW im Kartellzeitraum (1997 bis 1/2011) sowie im Nachkartellzeitraum (2/2011 bis heute) ermitteln. Da es sich bei LKW um hochpreisige Anlagegüter handelt, dürfte dies in den meisten Fällen ohne erheblichen Aufwand der eigenen EDV zu entnehmen sein. Es bietet sich an, die relevanten Vorgänge in einer tabellarischen Übersicht zusammenzustellen. Die Übersicht sollte die Kerndaten aus den Beschaffungsvorgängen enthalten. Eine entsprechende Checkliste stellen wir bei Bedarf gerne zur Verfügung.
  • Dokumente: Zusätzlich zur Datensammlung sind aus Beweisgründen möglichst schriftliche Belege (Kaufverträge, Rechnungen, Korrespondenz) und ggf. Zeugen zu ermitteln. Soweit schriftliche Unterlagen im Unternehmen nicht mehr vorhanden sind, können diese gegebenenfalls von den Kartellanten herausverlangt werden.

2. Ermittlung des Wettbewerbspreises

Der Geschädigte muss den hypothetischen Wettbewerbspreis nicht im Einzelnen konkret berechnen. Das Gericht kann den Schaden vielmehr schätzen. Hierzu ist erforderlich und ausreichend, dass der Geschädigte Anknüpfungstatsachen beibringt, die dem Gericht eine Schadensschätzung ermöglichen:

  • Nachkartellzeitraum: Erste Anhaltspunkte für die Überzahlung können oft aus dem Vergleich der im Kartellzeitraum und im Nachkartellzeitraum gezahlten Preise gezogen werden.
  • Akteneinsicht: Geschädigte haben grundsätzlich jederzeit einen Anspruch auf Einsichtnahme in die Akten der Kartellbehörde. Die Kommission hat in ihrer Pressemitteilung zum LKW-Kartell ausdrücklich darauf hingewiesen, dass jedenfalls seit dem Jahr 2004 die Absprachen per Email erfolgt sind. Aus der in den Akten befindlichen Korrespondenz lassen sich daher womöglich konkrete Preisabsprachen ermitteln.

Phase 2: Informationsauswertung

Rechtsgutachten: Anhand der gesammelten Informationen kann der Rechtsanwalt die Sach- und Rechtslage analysieren und eine erste Einschätzung der Erfolgsaussichten und Risiken eines Vorgehens gegen alle oder nur einzelne Kartellanten geben.

Ökonomisches Gutachten: In der Regel ist zudem zu empfehlen, die aus den vorbenannten Quellen gewonnenen Erkenntnisse in ein ökonomisches Gutachten einzubringen. Die Erkenntnisse des Gutachtens können dann bereits in die außergerichtlichen Verhandlungen und ggf. später als Parteivortrag auch in einen Gerichtsprozess eingebracht werden.

Phase 3: Außergerichtliche Inanspruchnahme

Die außergerichtliche Inanspruchnahme hat die vergleichsweise Streitbeilegung zum Ziel. Sie beginnt mit einem Anspruchsschreiben, in dem der ermittelte Schadensersatzanspruch dargelegt wird (ggf. bereits mit einem Klageentwurf verbunden). Zugleich wird der Anspruchsgegner zur Erklärung der grundsätzlichen Verhandlungsbereitschaft und zur Abgabe einer Verjährungsverzichtserklärung aufgefordert. Gegenstand des Vergleichs kann neben der Zahlung von Schadensersatz auch die Herausgabe von Beweismitteln zum Zweck der weiteren Rechtsverfolgung gegen andere Kartellanten sein.

Phase 4: Gerichtsprozess

Scheitert der Versuch der außergerichtlichen Streitbeilegung, ist Klage geboten. Hier bieten sich je nach Höhe des Schadensbetrages und der Risikobereitschaft drei Modelle an.

1. Einzelklage

Das deutsche Prozessrecht kennt vor allem das Einzelklagemodell (1 Kläger / 1 Beklagter). Die unterliegende Partei trägt sämtliche Kosten inklusive der gesetzlichen Rechtsanwaltsgebühren der Gegenseite. Bei kartellrechtlichen Schadensersatzklagen beteiligen sich aber typischerweise auch die anderen Kartellanten im Wege der Streitverkündung am Prozess. Bislang führt dies zu einer erheblichen Steigerung des Kostenrisikos. Voraussichtlich im Frühjahr 2017 wird es aber eine gesetzliche Begrenzung der Zusatzkosten auf den Wert der Hauptsache geben.

Das gesetzliche Prozesskostenrisiko in der 1. Instanz liegt bei einem Schadensersatzanspruch in Höhe von 1.000.000 € bei 1 Kläger und 1 Beklagten bei ca. 40.000 € (netto).

BERECHNUNGSBEISPIEL

Das gesetzliche Prozesskostenrisiko in der 1. Instanz liegt bei einem Schadensersatzanspruch in Höhe von 1.000.000 € bei 1 Kläger und 1 Beklagten bei ca. 40.000 € (netto).

2. Gemeinsame Klage

Sammelklagen sind im Kartellrecht nicht zugelassen. Bei Klagen aus Kartellverstoß ist aber die Bündelung mehrerer Schadensersatzansprüche zu einer Klage möglich. Eine solche Streitgenossenschaft" hat prozessuale Vorteile. Zum Beispiel verringert sie aufgrund der degressiv ausgestalteten gesetzlichen Prozesskosten das anteilige Kostenrisiko der Parteien. Voraussetzung der Streitgenossenschaft ist, dass die gemeinsame Prozessführung "zweckmäßig" ist. Dies ist nach unserer Auffassung bei Klagen gleichartiger Geschädigter aus einem Kartellverstoß der Fall, weil alle Kläger aus demselben Rechtsverstoß klagen.

Das Prozesskostenrisiko in der 1. Instanz liegt bei 10 Klagen in Höhe von je 1.000.000 € bei 1 Kläger und 1 Beklagten bei ca. 400.000 € (netto). Werden diese 10 Ansprüche in einer Streitgenossenschaft vor einem Gericht geltend gemacht, reduziert sich das Gesamtrisiko um ca. 40% auf ca. 270.000 €.

BERECHNUNGSBEISPIEL

Das Prozesskostenrisiko in der 1. Instanz liegt bei 10 Klagen in Höhe von je 1.000.000 € bei 1 Kläger und 1 Beklagten bei ca. 400.000 € (netto). Werden diese 10 Ansprüche in einer Streitgenossenschaft vor einem Gericht geltend gemacht, reduziert sich das Gesamtrisiko um ca. 40% auf ca. 270.000 €.

3. Finanzierungsmodell

Vor allem für Kläger mit vergleichsweise geringem Schaden (< 5 LKW bzw. < 100.000 € Schaden) kann es sich anbieten, das Prozesskostenrisiko auf einen Prozessfinanzierer auszulagern. Der Finanzierer übernimmt im Verlustfall die Prozesskosten und erhält im Gegenzug im Falle des Obsiegens einen Anteil (z.B. 30%) des zugesprochenen Schadensersatzes.

Hinweis: Die Beispiele sind zur Veranschaulichung vereinfacht. Weitere Kosten können durch Beweiserhebung und Streitverkündung entstehen.

Footnotes

1 Bundeskartellamt, Erfolgreiche Kartellverfolgung, S. 12.

2 Inderst/Thomas, Schadenersatz bei Kartellverstößen, 1. Aufl., 2015, S. 100 ff.

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